Interview
Im Gespräch mit Prof. Dr. Philipp Hessler
Herr Professor Hessler, zuerst einmal möchte ich Ihnen zu Ihrer Professur für Optometrie und Sehhilfentechnik an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena gratulieren. Obwohl Sie schon seit geraumer Zeit im Bereich der Lehre und Fortbildung für den Themenkreis Optometrie tätig sind, ist Ihre berufliche Laufbahn sicherlich nicht allen Lesern der OCL bekannt. Bitte schildern Sie doch kurz Ihren bisherigen beruflichen Werdegang.
Zunächst vielen Dank an Sie, lieber Herr Cagnolati, für die Einladung zum Interview. Ich stamme aus einer traditionsreichen Augenoptikerfamilie. Unser Familienunternehmen feiert in diesem Jahr sein 180-jähriges Bestehen in sechster Generation. Bereits von Kind auf war ich fasziniert von der Augenoptik. Ich hatte einen eigenen Schleifautomaten in der Werkstatt, habe mir im Grundschulalter bei einem Brillenglashersteller nahezu wöchentlich Ausschussgläser bestellt, die ich dann auf meinem alten Formscheibenautomaten gerandet habe. Später habe ich dann den Hauptteil meiner Freizeit mit Musik verbracht und hatte zeitweise auch den Wunsch Kirchenmusik zu studieren und hauptberuflicher Organist zu werden. Als es dann aber Ernst mit der Berufswahl wurde, habe ich mich dann doch für die Augenoptik entschieden. Dies sicher nicht zuletzt, weil mein Vater immer früh die Zeichen der Zeit erkannt hat, immer einen Schritt weiter war als viele andere augenoptische Betriebe und mir dadurch gezeigt hat, dass dieser Beruf tolle und vielfältige Möglichkeiten und Perspektiven bietet. So habe ich nach dem Abitur eine Ausbildung zum Augenoptiker bei der Firma Moritz Optik in Sonthofen im Allgäu abgeschlossen. Das war eine schöne Zeit in einem tollen Betrieb, in dem ich viel lernen durfte. Nach der Ausbildung gab es für mich keine Alternative zum Studium der Optometrie an einer Hochschule. Im Jahr 2010 bin ich nach Jena gegangen und habe das Bachelor- und Masterstudium absolviert. Bereits zu Beginn des Masterstudiums wurde mir eine Projektstelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter angeboten und in dieser Zeit habe ich auch meine ersten Vorlesungen und Praktika geleitet. Nach dem Masterstudium habe ich dann schwerpunktmäßig im Familienunternehmen gearbeitet, konnte das Unternehmen mit weiterentwickeln und habe in allen Facetten der Optometrie praktische Erfahrungen sammeln können. In diesen Jahren wurde mir eine berufsbegleitende Promotion an der Technischen Universität Ilmenau angeboten. Diese Promotionskooperation von der TU Ilmenau und der Ernst-Abbe-Hochschule Jena ermöglichte mir, parallel zu meiner praktischen Tätigkeit als Leitender Optometrist im eigenen Familienunternehmen weiter in Forschung und Lehre zu arbeiten. Danach kam dann der Ruf auf die Professur für Optometrie und Sehhilfentechnik. Jena hat mich also seit mittlerweile 15 Jahren nicht mehr losgelassen. Daran hat auch das Team des Fachgebiets Optometrie einen großen Anteil.
Sie haben Ihre akademische Laufbahn, obwohl Sie auch international publiziert haben, ausschließlich in Deutschland absolviert. Was waren Ihre diesbezüglichen Beweggründe?
Ich habe mich in Jena immer sehr wohl gefühlt und Jena ist zu meiner zweiten Heimat geworden. Es war auch nie so, dass ich den Drang verspürt habe, eine Zeit im Ausland verbringen zu wollen. Das liegt sicher auch daran, dass ich meine Erfüllung in der Kombination aus Lehre, Forschung und Praxis gefunden habe und dies in der Verbindung Familienunternehmen und Hochschule perfekt realisieren konnte. Der zweite Grund hängt ein bisschen mit dem ersten zusammen. Ich bin ein stark heimatverbundener Mensch und engagiere mich in verschiedenen Vereinen und Institutionen ehrenamtlich. Aus dieser Verantwortung heraus habe ich nie in Erwägung gezogen, ins Ausland zu gehen und für längere Zeit meine erste und zweite Heimat zu verlassen. Ich möchte dennoch betonen, dass mir der Blick über die Grenzen von Land und Kontinent hinaus sehr wichtig sind. Bereits während des Masterstudiums konnte ich im Rahmen des Wahlmoduls Patient Care an der Cardiff University in die angelsächsische Optometrie hineinschnuppern. Außerdem versuche ich, jährlich einen internationalen Kongress wie zum Beispiel die American Academy of Optometry oder die ARVO zu besuchen.
Das Thema Ihrer Dissertation war „Refraktionsänderungen in Dämmerung und Nacht“. Was waren die zentralen Erkenntnisse aus Ihrer diesbezüglichen Forschung?
Das Thema Sehen in Dämmerung und Nacht hat mich vor allem deshalb begeistert, weil es sehr wenig anwendungsnahe Forschung in diesem Bereich gibt. In den letzten 40 Jahren hat sich kaum eine Forschungsgruppe mit diesem Thema beschäftigt. Die meisten Publikationen kommen aus der Zeit zwischen 1940 und 1980 und ein Teil der Lehrmeinung basiert weniger auf empirischen Studien als vielmehr auf theoretischen Berechnungen und Annahmen. Natürlich hat sich seit dieser Zeit sehr viel verändert, sei es in der Messtechnik oder auch in der Beleuchtungstechnik. Wir haben im Rahmen dieser Arbeit die erste empirische Untersuchung zur Verschiebung der spektralen Hellempfindlichkeitskurve gemacht. Hier zeigte sich zum Beispiel, dass der sogenannte Purkinje-Effekt bei Lichtverhältnissen, wie sie zum Beispiel beim Autofahren in Dämmerung und Nacht aufzufinden sind, keine Rolle spielt. Ebenso haben wir gezeigt, dass die Akkommodationsruhelage als weitere, viel diskutierte Ursache keinen bedeutenden Einfluss auf Refraktionsänderungen in Dämmerung und Nacht hat. Eine weitere Studie, die im Rahmen der Dissertation durchgeführt wurde und sich mit der Höhe der Refraktionsänderung befasst, soll im Laufe des Jahres in der OCL publiziert werden. Da möchte ich natürlich noch nicht spoilern.
An der EAH Jena gehört zu Ihren Lehrgebieten auch der Bereich „Vison Training/Therapy“. Was genau kann sich der OCL Leser hierunter vorstellen?
Es geht um einen aus der angelsächsischen Optometrie stammenden Ansatz, Störungen von Akkommodation, Vergenz oder Augenbewegung zu erkennen und zu versorgen. Im deutschsprachigen Raum wird das Thema Binokularstörungen weitgehend mit Begriffen wie „Winkelfehlsichtigkeit“, MKH und Prisma assoziiert. Es geht dabei in der Regel nicht um Ursachenbehebung, sondern um eine Hilfsmittelversorgung. Die angelsächsische Optometrie geht hier meines Erachtens mit etwas mehr Weitblick vor. Bei einer Störung der Konvergenz wird kein Prisma Basis innen verordnet, sondern mit Sehübungen versucht, die Augen so zu trainieren, dass eine adäquate Konvergenzeinstellung möglich ist. Gerade für Störungen von Konvergenz und Akkommodation ist dies eine etablierte und wissenschaftlich fundierte Methode mit sehr hoher Erfolgsrate. Nach einer Einführung in die Grundlagen des Vision Trainings im Bachelorstudium vertiefen wir an der Hochschule dieses Gebiet in einem eigenen Modul im Masterstudium. In diesem Rahmen führen die Studierenden selbstständig unter Supervision Sehfunktionstrainings durch und begleiten einen realen Probanden mit einer Binokularstörung über den Zeitraum eines Semesters.
Lassen Sie uns jetzt zu Ihren weiteren Forschungsaktivitäten kommen. Ihr Name wird bei Augenoptiker und Optometristen häufig mit dem Thema Myopie verbunden. Welche diesbezüglichen Forschungsaktivitäten sind von Ihnen geplant oder finden, beziehungsweise fanden, schon statt? Für wie wichtig halten Sie den Aspekt Forschung für die deutsche aber auch internationale Optometrie?
Ich lege hier meinen Schwerpunkt auf anwendungsnahe Forschung im Bereich Myopiemanagement und habe mehrere transversale und longitudinale Studien sowie Metaanalysen durchgeführt. Themen sind zum Beispiel Wirkungsweise von optischen Korrektionsmethoden, Einfluss des Akkommodationsverhaltens auf die Myopieprogression, Erstellung von Normdatenbanken zu Achslängen- und Refraktionsänderungen kaukasischer Augen, Refraktionsmessung bei Kindern, Dokumentation und Erfolgskontrolle im Myopiemanagement, Differenzierung von Achslängen- und Brechwertmyopie, Vergleich von Wachstumskurven asiatischer und kaukasischer Augen oder Rotlicht im Myopiemanagement. Einige Erkenntnisse daraus konnten in der Myopie Software der Oculus Optikgeräte GmbH umgesetzt werden, für deren Kooperation ich sehr dankbar bin. Forschung bringt Innovation – initiale Ideen für Weiterentwicklungen kommen häufig aus der Praxis beziehungsweise aus Fallberichten und Fallstudien. Gerade hier haben Hochschulen Ihre Stärken. Die meisten Professoren verfügen über mehrjährige Praxiserfahrungen im Berufungsgebiet. Es ist sehr wichtig, dass Praxis und Forschung eng beieinanderstehen.
Das Fachorgan „Optometry & Contact Lenses (OCL)“ wurde auch deshalb gegründet, jungen Hochschulabsolventen aber auch Praktikern ein wissenschaftliches Forum zu bieten, wissenschaftliche und klinische Arbeiten in einen internationalen Peer Review Journal zu publizieren. Für wie wichtig halten Sie in diesem Kontext die OCL und wie ist das Interesse der Studierenden an dem Journal?
Die Bedeutung der OCL ist für die Publikation studentischer Arbeiten als sehr hoch einzustufen. Viele Abschlussarbeiten mit sehr guter Qualität landen nach deren Abschluss in der Schublade. Das ist schade und auch nicht Sinn und Zweck einer Abschlussarbeit. Darum ist es dankend hervorzuheben, dass die OCL uns und unseren Absolventen die Möglichkeit bietet, Abschlussarbeiten international zu veröffentlichen. Hierzu gehört auch die kostenfreie Übersetzung auf Englisch eingereichter Arbeiten. Zurück zu den Abschlussarbeiten. Unser Ziel ist ganz klar, noch mehr Arbeiten zur Publikation in einem Peer Review Journal zu bringen. Natürlich ist der Betreuungsaufwand für diese Arbeiten wesentlich höher, aber der Mehraufwand lohnt sich am Ende für alle Seiten.

Ein anderes immer wichtigeres Thema ist der Bereich KI. Die Bedeutung der KI hat in den letzten Jahren für die gesamte Medizin aber speziell auch die Ophthalmologie und Optometrie enorm zugenommen. Welche KI-Modelle sind nach Ihrer Meinung schon jetzt relevant für die Optometrie, und welche KI Modelle könnten in der Zukunft für die klinische Praxis in der Optometrie aber auch Ophthalmologie wichtig werden?
Ich blicke gespalten auf das Thema KI und sehe derzeit mehr Fragezeichen als Ausrufezeichen. Es ist zweifellos, dass sich KI-Modelle in naher und mittlerer Zukunft so weiterentwickeln werden, dass sie der Optometrie bei deren Hauptaufgaben, nämlich der Differenzierung zwischen Pathologie und Physiologie und der Früherkennung pathologischer Veränderungen helfen können. Derzeit wird häufig von KI gesprochen. Man muss jedoch prüfen, ob dort wo KI draufsteht, auch KI drin ist. Viele Anwendungen haben eine Software mit automatischer Kantenerkennung zum Beispiel zur Erkennung von Drusen oder zur Auswertung von Papillenbefunden. Das ist kein wirklich innovativer KI-Ansatz, weil er der Optometrie und Ophthalmologie nicht weiterhilft. Ein Cup-Disk-Verhältnis kann der Ophthalmologe oder Optometrist selbst mit einem Blick bestimmen. Wenn man schon KI einsetzt, muss sie einen wirklichen Nutzen haben; also etwas sehen, was der Experte mit seinen Augen und seiner Expertise auf den ersten Blick nicht sehen kann oder vielleicht gar nicht sehen kann. Dazu muss eine Maschine dazu gebracht werden, mehr zu sehen als ein Mensch und zu denken wie ein Mensch. Davon sind wir noch ein gutes Stück entfernt.
KI, so wie sie derzeit für unseren Bereich verfügbar ist, sehe ich eher als Bremse für die Entwicklung der Optometrie. Jeder Augenoptiker meint damit, optometrische Dienstleistungen anbieten zu können, ohne dass er die Kompetenzen dafür erworben hat. Das ist keine fortschrittliche, sondern eine rückschrittliche Entwicklung. In unserem Familienbetrieb ist die Optometrie eine Kernkompetenz. Der Grund, warum wir hohe Weiterempfehlungsraten haben ist nicht, weil der Kunde eine gut funktionierende Brille erhalten hat oder weil wir ihm bunte Bilder von seinem Auge mit Ampelfarbbalken-Auswertung mitgeben. Der Grund für die Weiterempfehlung ist, dass er die Kompetenz vor Ort spürt. Als Augenoptiker muss man sich genau überlegen, ob man diese Kernkompetenz einer Maschine überlässt, oder ob man die Kernkompetenz nicht lieber selbst erwerben und verkörpern will.
Lassen Sie uns nun zum Status der deutschen Optometrie kommen. In der Festschrift „25 Jahre FG AOOVS an der EAH Jena“ schreiben Sie: „Die Optometrie in Deutschland ist im internationalen Vergleich eher rückständig. Ich würde mir wünschen, dass wir in Deutschland die Optometrie so praktizieren können, wie es in den angelsächsischen Nationen selbstverständlich ist.“ Woran liegt es Ihrer Meinung, dass sich der Status der deutschen Optometrie im internationalen Vergleich heute so zeigt, obwohl schon in den 1920er Jahren der erste und damals einzige akademische Grad in Europa im Bereich der Augenoptik von der „Großherzogliche Sächsische Optikerschule“ in Jena, die im Jahr 1927 in „Jenaer Fachhochschule für Optiker (staatliche Anstalt)“ unbenannt wurde, vergeben wurde?
Dafür gibt es mehrere Gründe und ich möchte die wichtigsten hier anführen: Erstens, das Festhalten der Positionierung der Augenoptik und damit auch der Optometrie im weitgehend nichtakademischen Handwerksbereich, obwohl sich die Augenoptik/Optometrie schon lange in Richtung Gesundheitsberuf gewandelt hat. Zweitens, der fehlende Schutz der Berufsbezeichnung Optometrist und damit verbunden die herausgestellten Kompetenzen. Drittens, die fehlende Fortbildungspflicht. Viertens, die unüberschaubare Vielzahl an Abschlüssen und damit die Uneinheitlichkeit der Kompetenzen. Wenn wir dieses Festhalten an traditionelle und veralte Strukturen ohne klare Kompetenzregelungen nicht in den Griff bekommen, wird sich die Optometrie in Deutschland nicht bedeutend weiterentwickeln. Die RAL-Gütegemeinschaft versucht den Weg in die richtige Richtung zu zeigen. Es gilt jedoch eine grundlegende Weichenstellung vorzunehmen und ich hoffe sehr, dass man in Abstimmung mit den Hochschulen bereit sein wird, mutige Entscheidungen zu treffen.
Zum Abschluss des Interviews möchte ich Sie noch fragen, wie nach Ihrer Meinung die deutsche Augenoptik und
Optometrie in 20 Jahren aussehen wird, und wie wir junge Menschen in Deutschland begeistern können, Optometrie zu studieren, um anschließend in augenoptischen Niederlassungen klinische Optometrie zu praktizieren.
In 20 Jahren werden optometrische Dienstleistungen selbstverständlich sein, nicht zuletzt aufgrund des starken Rückgangs bei den niedergelassenen Augenarztpraxen vor allem in ländlichen Regionen. Optometrische Leistungen werden einen höheren Stellenwert in der Gesundheitsprävention haben als das derzeit der Fall ist. Damit wird der Arbeitsalltag in einem optometrisch geprägten Fachgeschäft im Jahr 2045 auch ganz anders aussehen als heute. Ob wir junge Menschen für unseren Beruf begeistern können, hängt unter anderem davon ab, welche Erfahrungen diese Personen selbst als Kunde, als Auszubildender oder als Student machen. Entwicklungsmöglichkeiten, Begeisterungsfähigkeit und Fortschrittlichkeit sind hier zu nennen. Weitere wichtige Gründe sind Arbeitszeit und Bezahlung, wobei in diesen Bereichen zwingend ein Umdenken erforderlich ist. Junge Menschen werden nicht an sechs Wochentagen arbeiten und wahrscheinlich auch nicht an fünf. Außerdem wird ein Master of Science nach drei Jahren Lehre und fünf Jahren Studium nicht für 45.000 Euro Jahresgehalt arbeiten. Die Unternehmen müssen sich fragen, welche Kompetenzen auch im Hinblick auf die Entwicklung in Richtung Optometrie hin notwendig sind und welche Perspektiven einem B.Sc. oder M.Sc. Optometrie geboten werden können. Ich erlebe häufig, dass Absolventen Lust auf klinische Optometrie in augenoptischen/optometrischen Niederlassungen haben, wenn man als Unternehmen heraussticht.